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Gericht: Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt
Beschluss verkündet am 27.06.2007
Aktenzeichen: 2 L 158/06
Rechtsgebiete: LSA-SOG, EMRK, OWiG


Vorschriften:

LSA-SOG § 37 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 5
OWiG § 117
1. Eine Ordnungswidrigkeit nach § 117 OWiG (ruhestörender Lärm) kann im Einzelfall auch von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit im Sinne von § 37 Abs. 1 Nr. 2 SOG LSA sein und eine Gewahrsamnahme rechtfertigen.

2. Für die Frage, wann diese Erheblichkeitsschwelle überschritten ist, dürfen die Bestimmungen in Art. 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht außer Acht gelassen werden.

3. Bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten darf eine Freiheitsentziehung nur unter den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK erfolgen, da Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ausschließlich Freiheitsentziehungen im Rahmen eines Strafverfahrens erlaubt. Daher muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die unverzügliche Erfüllung der fraglichen Verpflichtung zu erzwingen, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit (vgl. EGMR, Urt. v. 24.03.2005 - 77909/01 [Epple/Deutschland] - NVwZ 2006, 797).

4. In diesem Lichte betrachtet spricht Überwiegendes dafür, dass die (bloße) Belästigung für die Allgemeinheit oder Nachbarschaft nicht genügt, um eine Gewahrsamnahme zu rechtfertigen; vielmehr muss der Lärm zumindest geeignet sein, eine Gesundheitsbeschädigung hervorzurufen, was im Fall der anhaltenden Störung der Nachtruhe durchaus der Fall sein kann.

5. Zur freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO.


Gründe:

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Die Rechtssache hat nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

Dieser Zulassungsgrund verlangt, dass eine konkrete, aber generalisierbare, aus Anlass dieses Verfahrens zu beantwortende, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausreichende Rechtsfrage aufgeworfen wird, die um der Einheitlichkeit der Rechtsprechung willen der Klärung bedarf und noch nicht (hinreichend) geklärt worden ist. Die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung erfordert, dass der Rechtsmittelführer konkret auf die Rechtsfrage, ihre Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit sowie ihre über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung eingeht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.06.2006 - 5 B 99.05 -, Juris, m. w. Nachw.). Daran fehlt es hier.

Die Beklagte macht geltend, die Frage der Zulässigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen als ultima ratio gegen zur Nachtzeit lärmende Personen sei von allgemeiner Bedeutung und Polizeieinsätze der vorliegenden Art (gegen lärmende Betrunkene) gehörten zum Polizeialltag. Damit formuliert sie keine konkrete Rechtsfrage, die in einem Berufungsverfahren geklärt werden könnte. Im Übrigen hängt die Frage der Zulässigkeit der Gewahrsamnahme von Lärm verursachenden Personen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich - jedenfalls in dieser Allgemeinheit - einer rechtsgrundsätzlichen Klärung.

2. Die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht.

Nicht zu beanstanden ist die Annahme des Verwaltungsgerichts, eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung, die es erlaube, eine Person nach § 37 Abs. 1 Nr. 2 SOG LSA in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen, liege im Falle einer Lärmbelästigung nach § 117 OWiG nur dann vor, wenn die Auswirkungen des verursachten Lärms auf die Nachbarschaft nach den Umständen des Einzelfalls über Belästigungen erheblich hinausgingen und bei den Nachbarn einen nicht nur vorübergehenden Schlafentzug und/oder psychischen Stress bewirkten, der auf Grund seiner Dauer und Intensität geeignet sei, die Gesundheit der betroffenen Nachbarn zu schädigen. Ohne Erfolg wendet die Beklagte hiergegen ein, das Verwaltungsgericht überspanne damit die Anforderungen für das Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit bei nächtlichen Ruhestörungen; es genüge vielmehr, wenn einer einzigen Person der Schlaf für mehr als eine Stunde entzogen werde, ohne dass hierzu die Gesundheit der betroffenen Nachbarn geschädigt werden müsse.

Eine Ordnungswidrigkeit nach § 117 OWiG begeht, wer ohne berechtigten Anlass oder in einem unzulässigen oder nach den Umständen vermeidbaren Ausmaß Lärm erregt, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen oder die Gesundheit eines anderen zu stören. Eine solche Ordnungswidrigkeit kann im Einzelfall auch von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit im Sinne von § 37 Abs. 1 Nr. 2 SOG LSA sein (vgl. VG Schleswig, Urt. v. 15.06.1999 - 3 A 209/97 -, NJW 2000, 970; Rachor in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl., F 505). Für die Frage, wann diese Erheblichkeitsschwelle überschritten ist, dürfen indes die Bestimmungen in Art. 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht außer Acht gelassen werden. Danach darf die Freiheit einem Menschen nur in den darin explizit formulierten Fällen entzogen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom 24.03.2005 (77909/01 [Epple/Deutschland] - NVwZ 2006, 797) die bis dahin umstrittene Rechtsfrage geklärt, dass Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ausschließlich Freiheitsentziehungen im Rahmen eines Strafverfahrens erlaubt. Bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten darf eine Freiheitsentziehung nur unter den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK erfolgen, namentlich dann, wenn der Betroffene "zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung" festgenommen oder in Haft gehalten wird. Auf dieser Grundlage ist nach dem genannten Urteil des EGMR eine Freiheitsentziehung nur dann gerechtfertigt, wenn die Verpflichtung, um die es geht, genau und konkret ist. Außerdem muss der Betroffene versäumt haben, sie zu erfüllen, und die Festnahme und Haft müssen zum Ziel haben, die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen. Schließlich muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die unverzügliche Erfüllung der fraglichen Verpflichtung zu erzwingen, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit. In diesem Lichte betrachtet spricht Überwiegendes für die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die (bloße) Belästigung für die Allgemeinheit oder Nachbarschaft nicht genügt, um eine Gewahrsamnahme zu rechtfertigen; vielmehr muss der Lärm zumindest geeignet sein, eine Gesundheitsbeschädigung hervorzurufen, was im Fall der anhaltenden Störung der Nachtruhe durchaus der Fall sein kann (vgl. Rachor, a. a. O.).

Soweit das Verwaltungsgericht zu der Ansicht gelangt ist, nach der Beweisaufnahme lasse sich nicht feststellen, dass die Klägerin durch ihr Verhalten die Nachtruhe ihrer Nachbarn erheblich und nachhaltig gestört habe, begegnet auch dies keinen durchgreifenden Bedenken. Es hat hierzu ausgeführt, es könne angesichts der Aussagen des am Einsatz beteiligten Polizeibeamten N. und der Zeugin P. nicht ausgeschlossen werden, dass sich das ruhestörende Ausmaß des von der Klägerin verursachten Lärms erst anlässlich des zweiten Polizeieinsatzes ergeben habe. Der Zeuge N. habe unter anderem angegeben, dass vor der Wohnungstür der - stark alkoholisierten - Klägerin der Lärm leiser gewesen sei als vor dem Haus und beim Betreten ihrer Wohnung sich ihre lautstarken Äußerungen wegen des zweiten Einsatzes gegen sie (die Polizeibeamten) gerichtet hätten. Die Zeugin P. habe diese Schilderung bestätigt, indem sie angegeben habe, dass sie die Klägerin erst gegen 24.00 Uhr habe schreien hören, zuvor aber keinen Lärm aus deren Wohnung wahrgenommen habe. Daher liege es nahe, dass sich die Klägerin nach Ende des zweiten Einsatzes wieder beruhigt hätte.

Dem hält die Beklagte entgegen, das Verwaltungsgericht habe das Ergebnis der Beweisaufnahme unzutreffend gewürdigt. Der zweite am Einsatz beteiligte Polizeibeamte (S.) habe bekundet, dass der Lärm sehr erheblich gewesen sei und das halbe Haus aufgebracht habe. Ferner habe die Klägerin auch auf dem Polizeirevier weiter gegrölt. Der Zeuge N. habe ausgesagt, der Lärm sei auch oben vor der Tür der Klägerin noch deutlich wahrnehmbar gewesen. Gegenteiliges ergebe sich auch nicht aus der Aussage der Zeugin P., da die Aufenthaltsräume ihrer Wohnung besonders weit entfernt von der Küche der Klägerin liege. Die Alarmierung des Polizeinotrufs sei durch den Zeugen R. erfolgt, dessen Schlafzimmer auf der gleichen Hausseite wie die (Küche) der Klägerin liege und dessen Kinder durch den Lärm ebenfalls geweckt worden seien. Dessen Ruhebedürfnis und das der anderen Hausbewohner könne nicht an dem Eindruck dieser Zeugin gemessen werden. Fest stehe auch, dass ein zweiter Notruf erfolgt sei, auch wenn dieser nicht vom Zeugen R. getätigt worden sein sollte. Die Ruhestörung habe nur durch eine Ingewahrsamnahme der Klägerin unterbunden werden können. Es sei reine Spekulation, dass die Klägerin nur auf Grund des erneuten Erscheinens der Polizeibeamten wieder laut geworden sei. Diese hätten bei ihrer Prognose aufgrund der Tatsache, dass es bereits zwei Notrufe gegeben habe und die Klägerin beim Eintreffen der Polizei noch lauter geworden sei, vielmehr davon ausgehen müssen, dass die Klägerin auch in den folgenden Stunden weiter zumindest mit lauter Stimme andere Hausbewohner am Schlafen hindern würde. Damit vermag die Beklagte indes nicht durchzudringen.

Der Umstand, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme auch anders gewürdigt werden kann, begründet noch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gericht ist bei der Würdigung und Abwägung aller für die Feststellung des für seine Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts erheblichen Tatsachen frei, das heißt nur an die innere Überzeugungskraft der in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Argumente im Zusammenhang des Ergebnisses des Verfahrens und an die Denkgesetze, anerkannte Erfahrungssätze und Auslegungsgrundsätze gebunden, nicht dagegen an starre Beweisregeln - Grundsatz der freien Beweiswürdigung - (Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. § 108 RdNr. 4). Die "Freiheit", die der so genannte Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht und sich auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände bezieht, ist nach der einen Seite hin begrenzt durch das jeweils anzuwendende Recht und dessen Auslegung; nach der anderen Seite hin ergibt sich die Grenze daraus, dass der Überzeugungsgrundsatz nicht für eine Würdigung in Anspruch genommen werden kann, die im Vorgang der Überzeugungsbildung an einem Fehler leidet, z. B. an der Missachtung gesetzlicher Beweisregeln oder an der Berücksichtigung von Tatsachen, die sich weder auf ein Beweisergebnis noch sonst wie auf den Akteninhalt stützen lassen (BVerwG, Beschl. v. 22.05.2003 - 6 B 11.03 -, NVwZ-RR 2003, 873, m. w. Nachw.). Ist aber eine Überzeugung als solche fehlerfrei gewonnen worden, kann diese grundsätzlich nicht schon mit der Begründung erschüttert werden, auch eine inhaltlich andere Überzeugung sei möglich gewesen (BVerwG, Urt. v. 25.05.1984 - 8 C 108.82 -, NJW 1985, 393).

An einem der genannten Fehler leidet das angefochtene Urteil nicht. Die Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht ist vielmehr entgegen der Auffassung der Beklagten nachvollziehbar. Die Aussagen auch der am Einsatz beteiligten Polizeibeamten und der Zeugin P., lassen Zweifel offen, ob der von der Klägerin ausgehende Lärm beim zweiten Einsatz kurz vor Mittenacht ein solches Maß erreichte, dass eine erhebliche und nachhaltige Störung der Nachtruhe der Nachbarn der Klägerin zu befürchten war. Nach den Aussagen des Polizeibeamten N. war der Lärm vor der Tür der Klägerin zwar deutlich wahrnehmbar, aber leiser als vor dem Haus, wo der Lärm offenbar auf Grund eines gekippten Küchenfensters verstärkt auf die Straße dringen konnte. Der zweite Polizeibeamte (S.) erklärte zwar, dass der Lärm "sehr erheblich" und "das halbe Haus aufgebracht" gewesen sei; andererseits gab er an, sie hätten auf Grund der Lage vor Ort weitere Nachforschungen bei den übrigen Mitbewohnern nicht angestellt, er "gehe davon aus", dass der Anrufer ihnen bei Eintreffen vor Ort noch mal erläutert habe, wie sich die Situation seit des ersten Einschreitens entwickelt habe. Es lässt sich damit nicht eindeutig feststellen, dass das "Gegröle" der Klägerin auch in Nachbarwohnungen als erheblich und nachhaltig empfunden wurde. Die Zeugin P. hörte die Klägerin erst gegen Mitternacht, also während des Einsatzes schreien. Auch der Zeuge R., der den ersten Einsatz wegen zu lauter Musik aus der Wohnung der Klägerin veranlasst hatte, hat im Übrigen bekundet, dass er nach Beendigung des ersten Einsatzes aus der Wohnung der Klägerin kein "Gegröle" wahrgenommen habe. Auch die übrigen vernommenen Zeugen konnten ein solches "Gegröle" aus der Wohnung der Klägerin nicht bestätigen. Es mag zwar ein zweiter "Notruf" über die Fortsetzung der Lärmbelästigung bei der Leitstelle eingegangen sein; dies besagt aber nichts über das Ausmaß der Ruhestörung.

Der Senat verkennt nicht, dass es für die an einem Einsatz wegen ruhestörenden Lärms beteiligten Polizeibeamten häufig schwer zu beurteilen ist, wann die Erheblichkeitsschwelle erreicht ist, die es rechtfertigt, den Störer in Gewahrsam zu nehmen, und ob die Ruhestörung - gerade bei stark alkoholisierten Personen - trotz Aufforderung, diese zu beenden, fortgesetzt wird. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht allerdings darauf hingewiesen, dass bei der Anforderung der Kosten für einen Polizeieinsatz die materielle Beweislast für die Rechtmäßigkeit des Einsatzes bei der Polizei liegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.

Ende der Entscheidung

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